Samstag, 7. November 2015

Weltreise

Heute vormittag bin ich mit der Bahn auf dem Weg von Stendal nach Frankfurt am Main.
Nichts Ungewöhnliches? Doch, denn ich muß genauer sagen: heute vormittag vor 29 Jahren... Das Staatsgefängnis DDR hatte mir ein paar Tage Freigang gewährt. Ich durfte für 10 Tage den Mief des Ostens (und das auch ganz wörtlich verstanden) verlassen und die Partnergemeinde in Westdeutschland besuchen. Einen Tag zuvor hatte ich erfahren, ob ich denn nun gnädigerweise reisen darf, oder nicht. Aber mein Koffer war vorsorglich gepackt, ein Geschenk war besorgt und nicht nett eingepackt, weil ich damit rechnete, daß die Neugier der Grenzkontolleure ein Auspacken und damit ein Zerstören der kunstvollen Verpackung verlangen würde.
Von Stendal nach Frankfurt zu reisen, das war damals eine Weltreise. Nicht nur, daß man sich in eine völlig andere Welt begab, auch was die Reisezeit betrifft, kam es einer Weltreise gleich. Ich war, glaube ich, so etwa 10 Stunden unterwegs. Es war abends halb sieben, als ich ankam, es war dunkel und trotzdem war der Bahnhofsvorplatz recht hell und vor allem bunt beleuchtet, so daß es mir unwirklich, wie im Märchenland, vorkam.
Nach der ersten Bahnetappe, in Oebisfelde, dem Grenzübergang, gab es für alle Reisenden in einem abgesperrten Teil des Bahnhofes, eine mit Angst besetzte Kontrolle, die, wenn man Pech hatte, in Leibesvisitation ausarten konnte, oder, weniger angstbesetzt, in ein Auspacken des Koffers. Ich habe damals ein Verbrechen begangen, hatte vor, 10 D-Mark aus der DDR in die BRD zu schmuggeln (damit ich dort etwas flüssiger sei). Die Banknote hatte ich mir unter den Fuß geklebt. Darum also die Angst vor einer Leibesvisitation. Zum Glück fand diese nicht statt - ansonsten hätte meine Reise in den Westen nicht stattgefunden.
Als man endlich kontrolliert und durch das ganze Prozedere gedemütigt, wieder im Zug sitzend, endlich die schrecklichen und normalerweise unüberwindichen Grenzzäune hinter sich gelassen hatte, gab es ein deutlich spürbares Aufatmen im Zugabteil, die schreckliche Spannung fiel von einem ab, man hatte den Weg von der Unfreiheit in die Freiheit unbeschadet, körperlich zumindest, überstanden. Heute denke ich natürlich, daß die Stasi mit im Zug saß und alles genau beobachtete.
Ab Hannover war das Reisen richtig schön. Man fuhr in einem modernen Intercity, im Großraumwagen, das war so chic und so angenehm und so ein Luxus.
Die 10 Tage in Westdeutschland waren schön, interessant, bewegend, es gab viele gute Begegnungen , privat aber hauptsächlich auch im kirchlichen Bereich und speziell in der Partnergemeinde. Das Wetter war gut: es war nicht zu kalt, die Sonne schien, Herbst nochmal von der schönsten Seite.
Als ich zurückfuhr, heim ins Gefängnis, aber auch an den Ort, wo ich zuhause aber immer auch ein Fremder war, sah es anders aus. Bei der Verabschiedung auf dem Bahnhof in Frankfurt schien noch die Sonne, als ich aber die furchterregenden Grenzanlagen durchfuhr und bei mir dachte: Hier kommst Du jetzt nie wieder raus! - war es trübe und es regnete.
Es hat mehr als ein halbes Jahr gedauert, bis ich mir wieder einigermaßen vorstellen konnte, in einem so schrecklichen Land wie der DDR leben zu können.
Und jetzt? Jetzt lebe ich schon 13 Jahre im "Kuhwald", der Siedlung, in der ich einst, in Frankfurt, unsere Partnergemeinde besucht habe. Es ist längst nicht mehr so schön hier, der Lack ist ab, das Gold glänzt nicht mehr, weil es gar keines ist. Aber auch tatsächlich, und nicht nur in meiner Wahrnehmung, ist das Westdeutschland von heute ein anderes als das, was es damals noch war. Und das sage ich mit einer gewissen Wehmut.
Aber zurück, dorthin nach Ostdeutschland, möchte ich auch nicht mehr.

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